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Intention
MANIFEST ZUR NEGATION DER HARMONIE
Vorbemerkung
Die Moderne in der Malerei begann mit dem Ende
der Malerei. Ein geflügeltes Wort und anerkannte
Wahrheit. Fotografie und Film, also Formen techni-
scher Reproduktion, entzogen dem Malenden zum
Anfang des 20. Jahrhunderts den Hauptbestandteil
seiner Professur. Bis dahin war klar, dass das, was
ein Bild ausmacht, die weitgehende Interpretation
einer Vorlage sein durfte. In dem Umfang, wie die
fotografische Wiedergabemöglichkeit sich vervoll-
kommnete, verschwand die Notwendigkeit mit der
Malerei Abbilder des Sichtbaren zu schaffen. Die
Implosion des Gemäldes Anfang der 20er Jahre zur
monochromen Fläche bereitete dann endgültig die
Grundlage für den Neuanfang. Es entwickelte sich
eine permanente Suche nach dem Was und dem
Wie. Die Ergebnisse schwanken zwischen Abstrak-
tion und Gegenständlichkeit, zwischen Semantik
und der Verweigerung jedweder Bedeutung.
Der Hintergrund
Autonomie und völlige Unabhängigkeit sind
utopische Vorstellungen jenseits der erlebbaren
Realität. Gleiches gilt für die Harmonie. Partiell gibt
es Harmonien millionenfach. Doch selten bleiben
diese Zustände über einen längeren Zeitraum
bestehen. Jede einzelne Harmonie wird beim
Aufeinandertreffen mit anderen Harmonien zur
Auseinandersetzung gezwungen. Es entwickeln
sich Konflikte, die im permanenten Widerstreit der
Werte, Weltanschauungen, Religionen und Kulturen
ihren Ausdruck finden. Ein eindeutiges „JA” be-
deutet immer auch ein „NEIN” gegenüber der
möglichen Alternative. Akzeptiert man, dass
Gegensätze und Brüche gegenüber Harmonie
und Geschlossenheit ein strukturelles Übergewicht
besitzen, wird der molekulare Kern erfasst, der
für die zukünftige Entwicklung von substanziellem
Interesse ist. Sichtbar werden diese komplexen,
widerspruchsvollen Zusammenhänge aber erst,
wenn es gelingt, sie auch darzustellen. Das bedeutet
zunächst, die bisherigen Wertmaßstäbe auf den
Prüfstand zu stellen oder zumindest neu zu
hinterfragen. Einzig der Sinngehalt einer
dargestellten Thematik kann zum Maßstab der
Betrachtung herhalten, nicht etwa die mögliche
Geschlossenheit der Darstellung und die künstle-
risch-handwerkliche Vollkommenheit. Das kann zum
völligen Bruch mit bisherigen Wahrheiten führen,
wenn er dem einzelnen Werk seine Bedeutung gibt
(muss aber nicht). Die Konsequenz hieraus ist, dass
jedwede Form und Kombination von Inhalten,
Handschriften oder Ausdrucksmitteln möglich, ja in
gewisser Weise notwendig ist. Im Irrsinn versteckt
sich das Genie und am Ende der Erkenntnis lauert
ein Schwarzes Loch. Strukturen begleiten sich und
bedingen einander in der Art, wie die Beachtung
der Gesetze der Statik einem Gebäude seine Form
erhält oder die Gravitation die Planeten auf
Umlaufbahnen um die Sonne zwingt. Abstraktion
und Realität, Harmonie und Widersprüchlichkeit
sind nur dann in ihrer Bedeutung wahrnehmbar,
wenn sie sich an ihren Gegensätzen reiben können.
Alles bleibt in ständiger Bewegung. Nichts ist
endgültig. Was kommt, ist da und wird wieder
vergehen. Das, was uns umgibt, ist unendlich
variabel und bleibt niemals singulär. Gelingt es,
dies sichtbar werden zu lassen, dann kann
Komplexismus daraus entstehen.
Das Modell
Der Gedanke des Komplexismus in der Kunst ist
nicht neu. In der Musik gibt es Komplexismus seit
rund 20 Jahren. Ulrich R. Haltern (Humboldt-
Universität) schreibt dazu in seinem Aufsatz
„Polyphonie und Komplexismus, gesellschaftliche
Differenzierung und Rechtsprechungsminimalis-
mus” (Musik (und Recht) heute, HFR 1999, Beitrag 9,
Seite 8) zur Definition: „Komplexismus kann als
direkte (und potenzierte) Umsetzung polyphonen
Denkens angesehen werden, ja als „Polyphonie
von Polyphonien” (Boulez). Mahnkopf - selbst Kom-
ponist und sich dem Komplexismus zurechnend -
nimmt eine Definition von Polyphonie als Ausgangs-
punkt, nach der diese „Dissoziation der musikali-
schen Diskursivität” ist. Von der Polyphonie (als
Dissoziation der musikalischen Linien) ist es dann
nur noch ein kleiner Schritt zur Polymorphie (als
Dissoziation der Gestalten, etwa der Gesten, Motive
und Themen) und schließlich zur Polyprozessualität
(als Dissoziation der die polymorphen Linien
verzeitlichenden Prozesse). Doch nicht genug der
Polyismen: Hinzu kommen neben diesen „traditio-
nellen” Dissoziationsmodi noch Polyvektorialität
(eine Vorbereitung von Kompositionsmaterial nach
unterschiedlichen Techniken), Polykonzeptualität
(Dissoziation des das individuelle Werk konstitu-
ierenden Konzepts) und schließlich Polywerk (als
Dissoziation des in sich geschlossenen und
integralen Werks - man kennt dies bereits aus dem
14. und 15. Streichquartett Milhauds, die sowohl
einzeln als simultan, nämlich als Oktett, aufführbar
sind). Komplexismus verbindet sich insbesondere
mit dem Namen Brian Ferneyhough, daneben etwa
mit seinen Schülern Klaus K. Hübler und Frank Cox.
Am auffallendsten am Komplexismus dürfte die
äußerst komplizierte Notation sein, die an den
Interpreten die allergrößten Schwierigkeiten stellt.
Die einzelnen Spielvorgänge selbst sind polypho-
nisiert. Für ein Instrument - etwa die Flöte, also ein
Instrument, das nur einen Ton gleichzeitig spielen
kann - existieren gleich eine ganze Reihe von
Notensystemen. Das Notenbild bedarf für die
diversen parame trischen Ebenen der Spielmotorik
mehrerer Systeme, weil die auseinandergenomme-
nen Spielaktionen bezeichnet werden müssen: Etwa
Vibratostärke, Atem- oder Klappergeräusche, Finger-
perkussion auf dem Instrumentenkörper oder dem
Griffbrett, Bogenort und - geschwindigkeit, Dauer,
Stärke und Rhythmik von Bogenvibrato, Fingeraktio-
nen und -druck, natürlich auch Dynamik, Tonhöhe
und Tonlängen usw.. Die immense Kompliziertheit
betrifft sowohl die Rhythmik als auch die techni-
schen Anforderungen. Zugleich entsteht durch die
Notation eine Art „Augenmusik”, die eine visuelle
Vorstellung vom klanglichen Ergebnis ermöglicht.”
Beide Herangehensweisen (Musik und Bildende
Kunst) haben eine große Gemeinsamkeit - sie gehen
von Formen universeller Verflechtung aus. Zeitliche
und räumliche Vorgänge treffen aufeinander,
verschmelzen und lassen schließlich neue Formen
entstehen. Es geschieht per zufälligem Aufeinan-
dertreffen oder auch planvoll konstruiert. Die
Formenvielfalt des Komplexismus in der Bildenden
Kunst ist jedoch noch größer als in der Musik, da
neben der visuellen Wahrnehmung weitere Sinne
angesprochen werden können. Möglich ist dies
in direkter oder indirekter Weise. Indem man
komplexe Gedankengänge in einer Arbeit vereint,
entstehen Werke des direkten Komplexismus.
Werden einzelne Arbeiten mit anderen Arbeiten
derart in Beziehung gebracht, dass sie als
Gesamtwerk anzusehen sind, entsteht indirekte
komplexistische Kunst. All das allein reicht aber
nicht aus, um wirklich komplexistisch zu sein. Kaum
eine Wahrheit ist derart absolut, dass sie sich nicht
irgendwann ins Gegenteil verkehrt. Der Faktor Zeit
spielt deshalb eine herausragende Rolle. Erst wenn
es gelingt, substanzielle Bestandteile und zeitliche
Prozesse als Einheit darzustellen, entsteht
KOMPLEXISMUS.
Andreas Zimmermann,
Frankfurt (Oder), 19. Oktober 2005
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